
Meine Impulse
Die Stimmen der Stille
Unausgesprochene Geschichten zwischen den Generationen
Manchmal entdeckte ich eine mir wohlbekannte Müdigkeit in den Augen meiner Mutter – und viele Jahre später entdecke ich sie nun in meinen eigenen. In diesem Moment begreife ich: Es sind nicht nur die Jahre, die weitergegeben werden, sondern auch die Lasten. Und die Liebe. Eine stille, tief fließende Liebe.
Stellen Sie sich einen Tisch vor, an dem drei Generationen sitzen.
Die erste, die Generation meiner Mutter und meines Vaters. Menschen, die in jungen Jahren ihr Leben in einen Koffer packten und von der Türkei nach Deutschland auswanderten. Ich erinnere mich an sie als fleißig, aber auch als schweigsam. Ein Leben lang haben sie vieles getragen, aber nur wenig in Worte gefasst.
Die zweite, meine Generation. In Deutschland geboren, doch die ersten sieben Lebensjahre bei der Großmutter in der Türkei verbracht; aufgewachsen zwischen zwei Kulturen, stets auf der Suche nach Identität und Zugehörigkeit, bemüht, Brücken zu bauen. Nie ganz hier, nie ganz dort – und dennoch in beiden Welten Sinn finden wollend.
Die dritte, die Generation unserer Tochter. Aufwachsend mit ihrer Mutter türkischer Herkunft und ihrem deutschen Vater, beiden Kulturen selbstverständlich verbunden – und doch manchmal auf der Suche nach ihrem Platz. Sie zeigt den Mut, aus den schönsten Seiten beider Welten ihre eigene Kultur zu gestalten.
Dieses Bild ist nicht nur unsere Familiengeschichte. Es ist die gemeinsame, oft unausgesprochene Geschichte vieler Familien mit einem Migrationshintergrund, geformt über Generationen hinweg.
Unter jedem Schweigen liegt eine Geschichte
Migration ist mehr als ein Ortswechsel. Wenn man auswandert, trägt man mehr als nur einen Koffer. Unausgesprochene Gefühle, unvollendete Sätze, aufgeschobene Bedürfnisse reisen mit.
Erst Jahre später habe ich verstanden, was meine Mutter sagen wollte, wenn sie schwieg. Im Schweigen meines Vaters lag jenseits der Müdigkeit eine Form von Akzeptanz, vielleicht auch Einsamkeit. Als ich jung war und schrie, wollte ich gehört werden, doch niemand hörte wirklich zu.
Heute, wenn meine Tochter still wird, frage ich mich:
Welche Gefühle finden keine Worte?
Welche Bedürfnisse bleiben unsichtbar?
Der Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation von Marshall B. Rosenberg hilft mir heute, die Verletzlichkeit unter der Wut und die Sehnsucht hinter der Stille zu hören. Es geht nicht um Schuld oder Unschuld, sondern darum, wer gerade gesehen und gehört werden möchte.
Haben wir den Mut, einander wirklich zu sehen?
Beziehungen zwischen den Generationen werden oft mehr durch Schweigen als durch Worte geprägt.
Und hinter diesem Schweigen verbirgt sich meist dasselbe Bedürfnis: verstanden und gehört zu werden.
Als Kind konnte ich nicht begreifen, warum meine Mutter sich so viele Sorgen machte. Heute weiß ich: Auch Sorgen können vererbt werden. Wenn meine Tochter sagt: „Du bist so ängstlich“, erkenne ich, wie sehr ich meiner Mutter gleiche, und beginne zugleich, sie neu zu verstehen.
Das gilt nicht nur für Eltern und Kinder, sondern auch für Geschwister. Wir können im selben Haus aufgewachsen sein und doch das Gefühl haben, ganz unterschiedliche Leben geführt zu haben. Manchmal scheint es, als hätte jeder von uns andere Eltern gehabt, weil Elternschaft sich mit der Zeit verändert. Diese Unterschiede wahrzunehmen bedeutet, sich dem eigenen Erleben zu stellen.
Was wir als Kinder verglichen haben, kann im Erwachsenenalter zu tiefen Wunden werden. Sich mit den Geschwistern zu versöhnen, heißt oft, Frieden mit der eigenen Kindheit zu schließen.
Dann werden wir selbst Eltern. Wir versuchen, einen bewussteren, liebevolleren Weg zu gehen, und dennoch sprechen in uns die Stimmen vergangener Generationen. Manchmal wiederholen wir unbemerkt alte Muster.
Doch es gibt in uns einen Teil, der mit der Last der Vergangenheit eine Brücke in die Zukunft bauen möchte. Wenn wir diesen Teil berühren, werden wir weniger diejenigen, die schreien, sondern die, die zuhören; weniger diejenigen, die alles wissen, sondern die, die lernen; weniger diejenigen, die Recht haben, sondern die, die verstehen wollen.
Vielleicht ist der schönste Weg, den Stimmen der Generationen Raum zu geben, einander ohne Urteil zuzuhören – in einer Haltung, wie sie die Gewaltfreie Kommunikation beschreibt: präsent, wertschätzend und verbunden.
Mit dem Wunsch, uns gewaltfrei zu begegnen.
10.08.2025